Der Umzug nach Westfalen
Man sprach darüber, dass ich nun bald in die Schule käme. Mutter hatte aber den Wunsch, dass ich in Westfalen, in Wattenscheid eingeschult werden sollte. Mutter bedrängte Vater so lange, bis dieser nachgab und die Familie den Umzug nach Westfalen vorbereitete. Natürlich stellte meine Einschulung nicht den Grund dar, dieser war in der Unzufriedenheit, auf dem Lande leben zu müssen, bei meiner Mutter zu suchen. Sie war eine Großstädterin, in Bochum geboren und aufgewachsen, konnte sie sich nie an das Leben auf dem Lande gewöhnen. Hinzu kam, dass sich das politische Klima, weswegen meine Eltern Wattenscheid verlassen hatten, in der Zwischenzeit normalisiert hatte, da nun Hitler doch fest im Sattel saß. Kurz, um, Vater und Mutter verkauften in Ostpreußen den dortigen Haushalt und richteten sich in Wattenscheid so gut es ging, wieder neu ein. Aus dem in Ostpreußen erzielten Erlös kaufte sich Vater eine Taschenuhr mit Sprungdeckel aus Golddoublé. Diese Uhr ist heute noch als Erbstück in meinem Besitz. Sie ist voll funktionsfähig und hat einen Ehrenplatz. Der Tag unserer Abreise rückte immer näher. Mutter sorgte sich um unseren Reiseproviant. Am Abend vor unserer Abreise backte sie noch eine große Schüssel mit Ölkrabben. Wir hatten schließlich eine lange Reise vor uns. Die Entfernung von >Groß Friedrichsdorf< in Ostpreußen, bis nach >Wattenscheid< im Ruhrgebiet, betrug immerhin um die eintausend Kilometer. Einige Male mussten wir umsteigen, was immer mit Wartezeiten verbunden war. Zum Beispiel in Königsberg und in Berlin. Ja in Berlin mussten wir sogar einige Stationen mit der S-Bahn und der U-Bahn fahren, um den Bahnhof zu erreichen, von dem der Zug in Richtung Leipzig dann abfuhr. Den Königsberger Hbf sehe ich heute noch vor mir mit seinen drei riesigen Hallen. Unsere Reise dauerte über sechsunddreißig Stunden bis zum Nachmittag des folgenden Tages. Wenn wir beim Umsteigen in Königsberg, Berlin oder Leipzig Aufenthalt hatten, es waren oft zwei Stunden und mehr, ging Vater mit mir zu den Zügen, die bald abfahren mussten. Besonders beeindruckt war ich immer von den riesigen Dampflokomotiven. Diese hatten Antriebsräder mit einem Durchmesser von mehr als zwei Meter. Vater war der Technik sehr verbunden. Es machte ihm eine besondere Freude, die Reisegeschwindigkeit des Zuges zu errechnen. Mit meinem Bruder und mit mir ging er auf den Gang des D-Zugs. Dort nahm er seine neue Taschenuhr und erklärte uns, wie er die Geschwindigkeit errechnen wollte, was ich zu dieser Zeit noch nicht verstand. Also, zur damaligen Zeit gab es noch keine endlosen Schienen. Das machten Erfindungen nach dem Kriege erst möglich. Ein normaler Schienenstrang hatte zu jener Zeit eine Länge von fünfzig Metern. Im Gang eines D-Zug Wagens konnte man sehr gut vernehmen, wenn die doppelachsigen Drehgestelle der Wagen mit ihren Rädern über einen Schienenstoß fuhren. Es war immer ein tack tack zu hören. Vater achtete auf den Sekundenzeiger und zählte dabei eine Minute lang die Schienenstöße, multiplizierte sie mit fünfzig, und hatte so die zurückgelegte Strecke in einer Minute. Diese Entfernung nun wiederum mit sechzig multipliziert, ergab die augenblickliche Reisegeschwindigkeit des Zuges je Stunde. In Wattenscheid angekommen, wohnten wir die ersten Wochen in Höntrop bei der Oma de Wolf auf der Op de Veih. Vater besorgte sich Arbeit, natürlich im Bergbau. Nach etwa drei Wochen war auch die Suche nach einer Wohnung erfolgreich. Wir packten unsere sieben Sachen und zogen um. Am Stadtrand von Wattenscheid, an der Grenze zu Gelsenkirchen, bekamen wir in der Hollandstraße Nr. 13 in der zweiten Etage eine Wohnung. Das ganze Umfeld gefiel meinen Eltern und so lebten wir uns auch schnell ein. All, das in diesem Abschnitt geschilderte geschah im Herbst des Jahres 1938. Im April 1941 hatte mein Bruder Walter seine Konfirmation. Kirchlich gehörten wir in der Hollandstraße zu Ückendorf, ein Gelsenkirchener Stadtteil. In der dortigen evangelischen Kirche wurde er dann auch konfirmiert.
Nun war es so weit, im Februar 1939 hatte ich meinen sechsten Geburtstag und im April des gleichen Jahres wurde ich eingeschult. Ausgehend von der Bequemlichkeit der heutigen Zeit, hatte ich einen relativ langen Schulweg. Ich kann mich darauf besinnen, dass mich die Mutter lediglich zur Einschulung begleitete. Am zweiten Tag bin ich bereits alleine, bzw. mit meinen Schulkameraden zur Schule gegangen. Am Ende des ersten Schultages. Nun stolz mit dem Schulranzen nach Hause gehen zu können, erwartete uns vor der Schule ein Fotograf. Er machte von uns „i Männchen“ ein Gruppenbild und anschließend von jedem einzelnen Schüler. Wir waren stolz. Aus dieser Zeit habe ich noch in Erinnerung, dass wir uns, Schulklasse für Schulklasse in Zweierreihen zum Fahnenappell aufstellen mussten, bevor wir die Schule und somit das Klassenzimmer betreten konnten.
ENDE