Das Kriegsende
Im Herbst 1944 haben meine Eltern mit mir, Wattenscheid das letzte Mal wegen der Luftangriffe verlassen. Mutter hatte einen Bruder in Muldenstein bei Bitterfeld (Sachsen). Er hatte dort ein kleines Häuschen und hatte uns vorübergehend aufgenommen. Der Bruder hatte fünf Kinder und benötigte somit selbst seinen Platz. Die Eltern bemühten sich um eine Unterkunft und fanden auch sehr schnell ein möbliertes, großes Zimmer. Es war unsere Bleibe bis zum Ende des Krieges. Mein Bruder Walter hatte sich in der Zwischenzeit freiwillig zur Kriegsmarine gemeldet. Nach seiner Grundausbildung in Holland wurde er nach Estland zur Waffen SS versetzt. Um dann letztlich mit seiner Einheit in Schlochau an der polnischen Grenze zum Einsatz zu kommen. Zu dieser Zeit standen die Sowjettruppen noch auf der anderen Seite der Oder. Seine Kompanie hatte den Auftrag, wenn der Russe über die Oder kommt, ihn >restlos zu vernichten<. Dort haben wir ihn auch besucht. In den zwei Tagen unserer Anwesenheit hat Mutter nichts anderes gemacht, als die Wäsche der total verlausten Soldaten zu waschen. Eine alte Gulaschkanone hat sich dafür hervorragend geeignet.
Am 4. November 1944 haben die Alliierten Gelsenkirchen in Schutt und Asche gelegt. Die Stadt soll lichterloh gebrannt haben. Meine spätere Schwägerin Elli war mit ihrem Sohn (Klaus-Peter) bei diesem Großangriff sechs Tage verschüttet gewesen. Klaus-Peter zog sich dabei eine schwere Lungenentzündung zu und starb daran. Aus diesem Grunde bekam mein Bruder und Vater des Jungen, einen Sonderurlaub von drei Tagen. Er verbrachte aber diese drei Tage bei uns in Muldenstein. Ich kann mich noch gut daran erinnern, was Vater ihm beim Abschied sagte: „Junge, es ist fünf Minuten vor zwölf. Denk bitte daran, du kannst Deutschland nicht mehr retten.“
Das musste er auch nicht mehr. Der Russe hatte tags zuvor mit seiner letzten Großoffensive begonnen. So bescherte ihm der tot seines Sohnes, seine Leben. Mein Bruder versuchte zwar, sich zu seiner Einheit durchzuschlagen. Als er glaubte, seine Kompanie gefunden zu haben, kamen ihm von einhundert Soldaten, gerade mal zwei Kameraden entgegen. Die nun drei Verbliebenen waren gerade dabei zu beratschlagen, was nun zu tun sei. Ein Major, in einem Jeep kommend sprach die drei Soldaten an: „Zu welcher Einheit gehören Sie.“ Die drei Soldaten nannten dem Major ihre Einheit. Danach befahl er, die drei Soldaten sollen sich in den Jeep setzen. Er fuhr mit ihnen in Richtung Berlin. Kurz vor Berlin hielt er an: „So meine Herren, ich bin hier zu Hause.“ Dann zog er seinen Block aus der Tasche und gab jedem der drei Soldaten den Marschbefehl nach Rastenburg in Ostpreußen, wohl wissend, dass dort bereits der Russe war. Mein Bruder versuchte dann, sich nach Rastenburg durchzuschlagen. An mehreren, dafür vorgesehenen Stellen hat er sich gemeldet. Dort bekam er den Stempel als Nachweis, sich gemeldet zu haben. Aber wohin er fahren sollte, konnte ihm keiner sagen. So beschloss er, Rastenburg in Gelsenkirchen zu suchen.
ENDE