Evakuiert nach Lauenburg / Pommern

Auf der einen Seite hatte Mutter vor den Bombenangriffen eine höllische Angst. Auf der anderen Seite hielt sie es aus Sorge um ihre Daheimgebliebenen, nirgendwo lange aus. Das Schicksal wollte es. Unsere Heimat haben wir im folgenden Jahr 1943 wieder verlassen. Mutter hatte die Möglichkeit, mit mir, ich war inzwischen zehn Jahre alt, nach Lauenburg in Pommern, heute zu Polen gehörend, evakuiert zu werden. Gesundheitlich war sie inzwischen nur noch ein Nervenbündel. Es kam, wie es kommen musste, Mutter bekam einen Nervenzusammenbruch und wurde für lange Wochen ins Krankenhaus eingeliefert. Bei einer älteren Dame hatten wir ein Zimmer bekommen. Sie mochte und versorgte mich. Um mich musste sich Mutter also nicht sorgen.

Wenn ich heute so zurückblicke, machte ich es wie die ersten Ausländer (Italiener), die nach 1950 zu uns kamen. Ich hielt mich am Bahnhof auf. Eine Bahnsteigkarte kostete damals zehn Pfennige. Lauenburg, so kann ich mich noch erinnern, hatte einen Bahnhof mit drei Bahnsteigen. Hier verbrachte ich nun meine Freizeit. Wie schon in den Jahren zuvor faszinierten mich die großen Dampflokomotiven. Lauenburg lag an der Hauptstrecke von Berlin nach Königsberg und hatte somit einen regen Zugverkehr. So wie ein Zug in den Bahnhof einfuhr, stand ich vorne bei der Lokomotive und bewunderte sie. Mein Verhalten blieb den Lokomotivführern natürlich nicht verborgen. Lokwechsel war bei der nächsten Station, also in Gotenhafen, heute Gdynia in Polen. So habe ich den Lokführer in Richtung Gotenhafen auf Bahnsteig 1 gesehen, und wenn er nach ca. drei Stunden zurückkam, sah ich ihn auf dem anderen Bahnsteig. Ein Lokführer hat mich besonders gemocht. Nach gut einer Woche, ich stand mal wieder vor der Lok und bewunderte die großen Räder. Heute weiß ich es, sie hatten einen Durchmesser von über zwei Metern und zwanzig Zentimetern. „Willst du mal hinaufkommen?“, fragte er mich.

 

 

Ja sagte ich und kletterte sofort hinauf. Beeindruckt von dem, was zu sehen war, schaute ich mich um. Der Heizer war gerade damit beschäftigt, die Feuerstelle mit Kohle zu bestücken. Das kräftige Feuer haute mich schier um. Der Zug hatte um die drei Minuten Aufenthalt. „Zieh mal an diesen Hebel!“, sagte der Lokführer, „und dann schnell wieder hinunter.“ Ich zog und die Lok gab ein kräftiges Pfeifen von sich. Voller Stolz habe ich die Lok wieder verlassen. Nun kam es des Öfteren mal vor, dass ich hinaufklettern und an den besagten Hebel ziehen durfte.

Zu dieser Zeit lebten die Menschen hier noch wie im tiefsten Frieden. Was an den Krieg erinnerte, waren die vielen vorbeifahrenden Lazarettzüge. An einem Sonntag, ich stand auf dem Bahnsteig und wartete auf meinen Lokführer. Der Zug lief ein und ich stand vor einer total verkleideten Lokomotive. Die großen Räder, alles war verkleidet. Man konnte nicht hineinsehen. Doch dann, mit einer Ölkanne in der Hand stieg mein Lokführer vom Führerhaus hinunter. Als er mich sah, lachte er und fragte mich, ob ich bis Gotenhafen mitfahren wolle. Etwas anderes als ein Ja konnte ich gar nicht aussprechen. In der Lok, ich musste mich ganz klein machen. Es konnte mich niemand sehen. Meine Traumreise begann. Unterwegs fragte er mich, warum ich denn immer auf dem Bahnsteig sei. Ich erzählte ihm, dass Mutter im Krankenhaus liegt und ich so meine Zeit verbringe. Wie das alles mit dem Lokwechsel in Gotenhafen funktionierte, weiß ich heute nicht mehr. Ich kann mich nur daran erinnern, dass wir nach ca. drei Stunden wieder zurück waren.

 

ENDE